Über Geschlechtsumwandlung und Riffbarsche
Wir sitzen im Tram und kurven durch Zürich, als mein Bekannter sagt: «Weisst du, es ist schon abartig, sich umwandeln zu lassen. Das ist nicht natürlich. Von heute auf morgen eine Frau oder ein Mann zu werden.» Wie er plötzlich auf diese Thema kommt, ist mir schleierhaft, aber es spielt auch keine Rolle. Zudem: Von heute auf morgen geht das nicht. Es ist ein langwieriger, schwieriger Prozess, oft verbunden mit zahlreichen Operationen und Hormonbehandlungen. Ich erwidere: «Wie meinst du das ‘nicht natürlich’?» «Einfach gegen die Natur», sagt er. Ich frage, was er unter Natur verstehe und ob wir nicht auch ein Teil dieser Natur, der Schöpfung, des Komos seien. Auf einmal wird es kompliziert und differenziert. Ja, was ist Natur, und ist eine Geschlechtsumwandlung so widernatürlich?
Was ist Natur?
Mein Bekannter denkt beim Wort «Natur» an Wald, Wildnis, Berge, Tiere, aber nicht an Menschen. Es stimmt, dass wir uns häufig in einer künstlichen Welt befinden. Wir sitzen stundenlang vor Bildschirmen, vagabundieren durchs Internet, arbeiten in klimatisierten Räumen hinter Glasfassaden und spüren weder Wind noch Wetter. Insofern haben wir uns tatsächlich von einer natürlichen Umgebung entfernt. Zu glauben jedoch, dass die Natur «rein» sei, wie es mein Bekannter ausdrückt, dass dort weder Homosexualität noch Geschlechtsumwandlung vorkämen, ist naiv, wie ich ihm erkläre.
Ein Fisch namens Nemo
«Finding Nemo» – so heisst der berühmte amerikanische Film aus dem Jahr 2003. Bereits am Eröffnungswochenende spielte er 70 Millionen Dollar ein. Der Film erzählt die Geschichte des kleinen Clownfischs Nemo, der im Pazifischen Ozean nahe Australien aufwächst. Sein liebevoller Vater Marlin ist durch den frühen Tod von Nemos Mutter und seinen Geschwistern ängstlich geworden. Er versucht daher, seinen Sohn vor den Gefahren des Meeres zu schützen. Wie der Zufall so will, verliert er ihn schliesslich. Nemo wird von Menschen gefangen, und Marlin bricht in die Weiten des Ozeans auf, um seinen Sohn wiederzufinden. Nemo ist von Millionen von Menschen – übrigens auch von meinem Bekannten(!) – ins Herz geschlossen worden. Schön und gut – aber was haben Clownfische oder Nemo mit Geschlechtsumwandlung zu tun? Viel!
Der Chef ist ein Weibchen, das einmal ein Männchen war
Nemo ist ein Clown- oder Anemonenfisch und gehört zur Familie der Riffbarsche. Clownfische verbringen ihr ganzes Leben mit einer Seeanemone; zusammen bilden sie eine Symbiose. Die Seeanemone schützt die Clownfische mit ihren giftigen Tentakeln vor Fressfeinden, und die Clownfische machen dasselbe: Sie schützen die Seeanemone vor Fressfeinden, zum Beispiel vor Faltenfischen. Das grösste Exemplar einer solchen Clownfischgruppe ist immer ein Weibchen, die übrigen sind Männchen. Stirbt das Weibchen, so wechselt das grösste Männchen das Geschlecht und wird zum Weibchen, zur Chefin der Haremsgruppe! Auch das ist Natur – wie ich meinem Bekannten erkläre. Er muss zweimal leer schlucken …